Auf ein Wort mit Katharina Bärenfänger

Pfarrerin der evangelischen Gemeinden Marköbel und Rodenbach

Katharina Bärenfänger ist seit Januar 2018 Pfarrerin der evangelischen Kirchengemeinde Marköbel und seit Januar 2020 zusätzlich Pfarrerin in Rodenbach. Zuvor hat sie als Assistentin im Bereich Kirchengeschichte an der Universität Tübingen gelehrt und wissenschaftlich gearbeitet.

Wie haben Sie in Ihrer Gemeinde das letzte halbe Jahr erlebt? Was war schwierig, was erstaunlich oder neu?

Ich habe ein unglaublich großes Spektrum an Emotionen und Atmosphären erlebt, vielleicht größer als je zuvor in meiner Arbeit. „Ein jegliches hat seine Zeit“, lautet ein Gedanke aus dem biblischen Buch Kohelet. Er bringt für mich vieles auf den Punkt. Dort heißt es: „Weinen hat seine Zeit, lachen hat seine Zeit; klagen hat seine Zeit, tanzen hat seine Zeit; (…) sich umarmen hat seine Zeit, aufhören, sich zu umarmen, hat seine Zeit.“ Zu Beginn dieses Jahres haben wir in unserer Kirchengemeinde viel zusammen gelacht und getanzt. Wir haben in den letzten Jahren eine gute Zeit erlebt. Und unsere Dankbarkeit und Freude darüber mündete am 15. Februar in einen unvergesslichen Festabend – den „Winterball“ in unserer schönen barocken Marköbeler Kirche. Kurze Zeit später schon wäre dieses Fest nicht mehr möglich gewesen, denn bereits im März kam der Lockdown. Und mit ihm begann auch für uns eine besondere Passionszeit, in der nicht nur in unseren Schaukästen das Motto hing: „40 Tage anders leben“. Dieses Jahr haben wir tatsächlich anders gelebt. Verlangsamt. Terminreduziert. Wachsam. „Ein jegliches hat seine Zeit.“ Mir war wichtig, beide Zeiten anzunehmen und beide Zeiten bewusst zu gestalten.

Auch die Kirchengemeinden musste sich im März auf diese neue Situation einstellen, die vorher kaum vorstellbar war: den so genannten Lockdown. Wie sind Sie in Ihrer Gemeinde ganz praktisch damit umgegangen?

Für uns war schnell klar: Wir feiern weiterhin Gottesdienst – gerade jetzt! Nur feiern wir ihn nicht an einem Ort, wie bisher, sondern von zu Hause aus als große Gemeinde über den ganzen Ort verteilt. Jeden Tag um 12 Uhr läuteten die Kirchenglocken, und alle waren herzlich eingeladen, gemeinsam zu wachen und zu beten. Dafür gab es eine kleine Liturgie mit Psalmen, Liedstrophen und Bibelversen, die wir an alle Haushalte verteilten. Ein Highlight war für uns, nach den Wochen der Passionszeit, dann die Osteraktion „1000 Lichter für die Menschen“: Wenn unsere Nachbarinnen und Nachbarn nicht zum Ostergottesdienst in die Kirche kommen können, dann bringen wir das Osterlicht eben zu ihnen nach Hause, so unser Gedanke. Es kam zu einem ersten Wiedersehen und zu rührenden Begegnungen an den Gartenzäunen. Mit Posaunenklang, dem Entzünden der Osterkerze und einem Auferstehungslicht für jeden Marköbeler Haushalt wurde es dann auch in diesem Jahr Ostern – trotz allem!

Gab es neben den vielen Einschränkungen und sich ständig verändernden Bestimmungen auch positive Ansätze während dieser Zeit?

Wir haben die Bedeutung unseres Kirchenraumes neu für uns entdeckt, und zwar gleich im doppelten Sinne: als gestaltete Kirche innen und als Freiluftkirche außen. Auch in den Monaten des Lockdowns haben wir unsere Kirche weiterhin täglich für Besucherinnen und Besucher offengehalten. Die Nutzung erfolgte unter Hygieneauflagen und einzeln. Jeden Sonntag war ein Mitglied unseres Gottesdienstteams stellvertretend für uns alle in der Kirche und trat im Gebet für unseren Ort, unser Land und unsere Welt vor Gott ein. In einem Gebetskasten konnten persönliche Anliegen deponiert werden. Auf einem Büchertisch gab es Anregungen und Literatur für die persönliche stille Zeit. Und ein großes Holzkreuz lud ein, Angst und Sorgen, Freude und Dank auf Kärtchen zu schreiben und hier „abzuladen“. Bis heute quillt es vor Botschaften über. Während des Lockdowns sagte eine Besucherin zu mir: „Wenn ich in die Kirche komme, bin ich hier allein, so, wie auch sonst tagsüber zuhause. Aber wenn ich dann das Kreuz mit all den Botschaften anschaue, dann sehe ich, wie viele Menschen eigentlich mit mir zusammen hier sind.“ An Pfingsten haben wir dann zum ersten Mal wieder zusammen an einem Ort und mit Abstand Gottesdienst gefeiert – in unserer Freiluftkirche, bei strahlendem Sonnenschein unter freiem Himmel auf der großen Wiese im Kirchhof. Dieser wunderbare Platz soll auch zukünftig „Gottesdienstraum“ für besondere Festgottesdienste bleiben. Denn unsere Kirche endet nicht an ihren Mauern, sie entsteht immer neu dort, wo wir gemeinsam zu Gott kommen.

Der evangelische Kirchenvorstand

Waren die Menschen verunsichert und haben während der letzten Monate verstärkt das seelsorgerliche Gespräch gesucht?

Verunsichert waren wir wohl alle. Aber vor allem in Erinnerung geblieben sind mir Szenen und Gespräche, in denen ich gestaunt habe über Mut, Achtsamkeit und Courage meiner Mitmenschen. In den ersten Tagen der Pandemie bin ich in unserem Ort einkaufen gegangen. Viele Regale mit Hygieneartikeln waren leer, das heißt: Sie waren fast leer. Denn in den meisten Regalen stand noch ein letztes Produkt seiner Sorte. „Vielleicht braucht dieses letzte Stück Seife noch jemand dringender als ich“, dieser Gedanke rührte mich. 100 % gibt Gott mir zum Leben, aber 10 % gebe ich ihm zurück.
Denn vielleicht braucht jemand diese 10 % noch dringender als ich. Eine Apothekerin aus Frankfurt erzählte mir Mitte März: „Unser Vorrat an Mundschutz und Desinfektionsmitteln in der Apotheke ist fast aufgebraucht. Da kam plötzlich ein Kunde in die Apotheke und sagte: Ich habe noch fünf Schutzmasken im Auto. Ich würde sie gerne mit ihnen teilen.“
Im Mai habe ich die Vikarinnen und Vikare unserer Landeskirche in Kirchengeschichte unterrichtet. Unter ihnen war auch ein Vikar, der in der vergangenen Woche seinen Vater verloren hat. „Mein Vater war Pfleger im Krankenhaus. Da er erst Anfang 50 und fit und gesund war, hat er sich freiwillig zum Dienst auf der Corona-Station gemeldet. Er hat sich infiziert und ist gestorben.“ Ja, die persönlichen Gespräche am Telefon, über Teams, Zoom und WhatsApp oder im Pfarrgarten und im Kirchhof haben zugenommen – vor allem aber haben sie an existentieller Tiefe gewonnen.

Wie erleben Sie die ökumenische Zusammenarbeit vor Ort?

Als ehemalige Schülerin eines katholischen Gymnasiums und Mitarbeiterin in internationalen Jugendprojekten sind mir ökumenische Kontakte und übergemeindliche Zusammenarbeit sehr wichtig. Ich sehe darin einen Grundbaustein für unsere Kirche von morgen. So hatten wir in unserer Gemeinde zum Erntedankfest Besuch von Bischof Iob Ubane aus Madikwe/Südafrika. Er verabschiedete sich mit den Worten: „Small village – great people! Ihr müsst nur mehr tanzen!“ Das haben wir dann auch gerne getan. Seit mehreren Jahren gestaltet die Kirchengemeinde Marköbel ihre Konfirmandenarbeit zusammen mit der Gemeinde Neuberg und fährt mit etwa 100 Jugendlichen aus Rüdigheim, Ravolzhausen, Langenselbold, Bruchköbel und Heldenbergen auf Outdoor-KonfiCamps in den Bayerischen Wald. Eine noch längere Tradition hat die mehrtägige Konfirmandenfahrt mit dem Schwerpunkt Diakonie in die Bodelschwingh’schen Stiftungen nach Bethel zusammen mit den Nachbargemeinden Langen- Bergheim und Eckartshausen. Vor Ort erfreuen wir uns eines bunten und fröhlichen Miteinanders mit den Mitgliedern der Evangelischen Gemeinschaft, wenn wir gemeinsam das Familien-Lichterfest zum Reformationstag planen, Allianzgottesdienste mit Gastreferenten organisieren oder Oster- und Einschulungsgottesdienste für unseren Ort gestalten. Die personelle Situation in unseren katholischen Nachbargemeinden ist derzeit durch diverse Wechsel und Vakanzen nicht einfach. Umso mehr freue ich mich über die gottesdienstliche Gastfreundschaft, die wir in Oberrodenbach erleben dürfen, ebenso wie über eine gute Zusammenarbeit mit meinen katholischen Kollegen aus Bruchköbel bei ökumenischen Feuerwehr-Jugendgottesdiensten und Trauungen.

Wie erleben Sie das Gemeindeleben in Ihrer täglichen Arbeit? Spüren Sie den Trend, dass immer mehr Menschen die Kirche als Institution verlassen oder kritisch sehen?

Die Institution Kirche besteht unter konkreten gesellschaftlichen Bedingungen und ist damit, meiner Beobachtung nach, als Organisation auch den gesellschaftlichen Entwicklungen ausgesetzt. Konkret erleben wir also auch in der Kirche jene Krise, die in der Vereinskultur mit Schlagworten wie „Mitgliederschwund“ oder „Rückgang des sozialen Lebens“ benannt wird. Zugleich erleben wir im kirchlichen Bereich aber auch das Potenzial jener Krise, wenn Menschen – nicht zuletzt unter den Bedingungen der Corona-Pandemie – anfangen, sich neue Felder zu erschließen und etwa im digitalen Bereich auf sehr kreative Weise mit neuen Formaten kirchlichen Lebens experimentieren. Der Vorstellungsgottesdienst unserer Rodenbacher Konfirmanden wird zum Beispiel dieses Jahr als digitaler Zoom-Gottesdienst stattfinden. Uns in Marköbel haben die Herausforderungen der letzten Monate dazu ermutigt, Zeit und Energie in die Gestaltung unserer gemeindlichen Homepage zu investieren. Besuchen Sie uns doch mal unter www.kirche-in-markoebel.de!

Was treibt die Menschen heute um? Gibt es nach wie vor viele Christen, die ihr Leben konsequent nach dem Glauben ausrichten oder überwiegen eher die Zweifel am Sinn der Religion?

Weltweit gilt das Christentum als eine wachsende und stark verfolgte Religion. Von beiden Tendenzen spüren wir in Europa relativ wenig. In unserem sogenannten christlichen Abendland scheint die christliche Religion immer mehr an Selbstverständlichkeit und Strahlkraft zu verlieren. Viele Werte, die uns als Gesellschaft nach wie vor wichtig sind, führen wir nicht mehr unmittelbar auf den Einfluss des christlichen Glaubens zurück. Zugleich erlebe ich, dass viele Menschen die Situation in unserem Land beschäftigt: Was ist mit dem aufsteigenden Antisemitismus und der Fremdenfeindlichkeit? Mit Misstrauen gegenüber medialer Berichterstattung und politischen Verantwortungsträgern? Was ist mit einer zunehmenden Vereinsamung und Verarmung älterer Menschen, mit der immer größeren werdenden sozialen Kluft? Was ist mit der Ausbeutung von Menschen, Tieren und Land – und wie sind wir selbst daran beteiligt? Auf viele dieser Fragen lohnt es sich, einmal Gott, den Vater und Schöpfer, zu Wort kommen zu lassen. Zu hören, was Gott, der Sohn, für uns und unsere Welt getan hat. Und uns durch den Heiligen Geist mit hineinnehmen zu lassen in Gottes heilvolles, lebenserhaltendes und segnendes Handeln an dieser Welt.

Was freut Sie in Ihrer Arbeit als Pfarrerin am meisten, und welches sind eher schwierige Aufgaben, die sie bewältigen müssen?

Am meisten freut mich, wenn ein Mensch die lebensverändernde Kraft des Glaubens für sich entdeckt und Jesus Christus kennenlernt. Als Herausforderung empfand ich während der Corona-Pandemie zuweilen die parallele Tätigkeit in zwei Kirchengemeinden mit ihren unterschiedlichen Rhythmen, Richtlinien, Gottesdienstkonzepten und Hygieneplänen.

Würden Sie sich auch heute wieder für den Beruf entscheiden?

Ich bin der festen Überzeugung: Es gibt keinen schöneren Beruf auf Erden! Ich hoffe natürlich, dies denken möglichst viele von ihrem Beruf.

Herzlichen Dank für dieses freundliche Gespräch!